Aktive SchülerInnen, ein Wunschtraum jeder Lehrperson?

Ein Plädoyer für schüleraktivierenden Instrumentalunterricht

Von lic. phil. Renate Lemmer Schönenberger

Kennen Sie diese drei Situationen? Die SchülerIn ist wortkarg und antriebslos … Sie als Lehrperson sind überaktiv und versuchen krampfhaft, die SchülerIn zu motivieren … nach dem Unterricht sind Sie erschöpft und ausgelaugt. Oder: Die SchülerIn möchte der Lehrperson alles recht machen … sie hat keine eigene Meinung und ist sehr angepasst … der Unterricht läuft genau nach ihrer Planung und doch fehlt Ihnen etwas. Oder: SchülerInnen in einer Kleingruppe überborden mit ihrer Energie … Sie probieren mit Zurechtweisungen die Situation zu beruhigen … Inhalte werden kaum gearbeitet … Sie sind nach der Lektion genervt und ratlos.

Durch meinen Artikel bekommen Sie methodische Anregungen, praktische Beispiele und Planungsstrategien, die Sie modifizieren und für Ihren eigenen Unterricht adaptieren können.

Schüleraktivierende Unterrichtsmethoden

Für die Aktivierung von SchülerInnen im Unterricht eignen sich gemäss Anselm Ernst (vgl. Ernst, S.83; das Literaturverzeichnis finden Sie am Ende dieses Artikels) von den sechs Unterrichtsmethoden vor allem die folgenden drei Methoden:

  • “Dialog-Methode” (DM) = gleichberechtigte Kommunikation zwischen SchülerIn und Lehrperson.
  • “Aufgebendes Verfahren” (AV) = SchülerIn probiert aus und arbeitet selbstständig unter Betreuung der Lehrperson.
  • “Entdeckenlassendes Verfahren” (EV) = SchülerIn findet selbst heraus und betätigt sich kreativ, die Lehrperson zieht sich zurück.

Als sinnvolle Ergänzung zu diesen drei vorgeschlagenen Methoden kann meiner Meinung nach die “Modell-Methode” (MM) eingesetzt werden, denn Nachahmungslernen muss nicht nur instruktiv sein und zum Ziel haben, dass die SchülerIn die Lehrperson kopiert: Die SchülerIn hat bei der nachahmenden Darstellung einen konstruktiven Anteil, denn “bei aller Ähnlichkeit mit dem Darstellungsobjekt” wird “etwas Neues, Unverwechselbares, Individuelles” erzeugt (Mahlert, S.14). Als weitere methodische Möglichkeit für den Unterricht in Klein- und Grossgruppen kann zur Förderung der Selbsttätigkeit der SchülerInnen das Verfahren “Modeling” (M) (vgl. Schibig, Leimbacher, S. 18) eingesetzt werden: Ein Gruppenmitglied oder mehrere Gruppenmitglieder machen eine Tätigkeit vor und kommentieren diese, während die Beobachtergruppe zuschaut, Rückmeldungen gibt und Verbesserungsvorschläge macht. Die Lehrperson als Moderatorin und Expertin sammelt diese Inputs und versucht zusammen mit der Beobachtergruppe Einsichten und Regeln zu formulieren.

Aber wie können diese Methoden konkret im Instrumentalunterricht umgesetzt werden?

SchülerInnen sind häufig überfordert, wenn die Lehrperson von ihrem lenkenden Unterrichtsstil abweicht und die damit einhergehende bequeme Sicherheit unvermittelt abbricht. Damit eine SchülerIn sich gelöst und selbstbewusst im Unterricht aktiv beteiligen kann, ist eine aufbauende Herangehensweise nötig, in der die Lehrperson der SchülerIn zusehends mehr Selbstständigkeit zugesteht und Selbstverantwortung überträgt. Zum einen braucht die SchülerIn eine angstfreie Lernumgebung, in der “Fehler” Lernchancen bedeuten, zum anderen soll die Lehrperson eine Atmosphäre kreieren, in der das Vertrauen in das Lernpotenzial der SchülerInnen spürbar ist.

Der folgende progressive Aufbau soll die Aktionsform der SchülerIn, die Tätigkeit der Lehrperson und Formulierungsvorschläge für die Lehrperson aufzeigen. Die 5 Stufen bauen aufeinander auf: Die Stufe 1 verlangt Wahrnehmungsfähigkeit und bei Stufe 2 ist der Schwierigkeitsgrad durch die Eigenwahrnehmung gesteigert. Stufe 3 setzt Stufe 1 und 2 voraus, denn die Meinungsbildung ist erst möglich, wenn Selbstwahrnehmungs- und Reflexionsprozesse bereits im Gange sind (vgl. Fend, S. 15). Von der Stufe 4 zur Stufe 5 wird die Unterstützung der Lehrperson sukzessive zurückgezogen (“fading”, vgl. Reusser, Reusser-Weyeneth, S. 232). Die einzelnen Methoden werden kombiniert, greifen ineinander und werden den Unterrichtsinhalten angepasst (die vorherrschenden Methoden sind als Abkürzungen in den Klammern angegeben). Dieser Aufbau eignet sich sowohl für Einzelunterricht als auch für Gruppenunterricht:

Progressiver Aufbau zur Aktivierung von SchülerInnen im Instrumentalunterricht

  1. Beobachten und vergleichen: Die Lehrperson macht verschiedene Möglichkeiten vor, die von der SchülerIn verglichen und kommentiert werden.  Formulierungsvorschläge: “Vergleiche zwischen …”; “Beobachte Folgendes …”; “Was fällt dir auf … an?” (MM/ DM/ im Gruppenunterricht M).
  2. Sich selbst einschätzen und überprüfen: Die Lehrperson vereinbart gemeinsam mit der SchülerIn Ziele, welche diese bei sich selbst wahrnehmen und kontrollieren soll. Formulierungsvorschläge: “Beobachte Folgendes bei dir …”; “Hast du das Ziel erreicht?”; “Was ist dir gelungen, was könntest du verbessern?” (DM, ev. kombiniert mit AV/ im Gruppenunterricht M).
  3. Eine eigene Meinung bilden und haben: Die Lehrperson übergibt der SchülerIn das Wort.  Formulierungsvorschläge: “Was weisst du über …?”, “Was denkst du über …?” (DM, ev. kombiniert mit AV/ im Gruppenunterricht M).
  4. Ausprobieren und entdecken: Die Lehrperson gibt einen konkreten Auftrag, den die SchülerIn im Unterricht ausprobieren und sich dazu äussern kann. Formulierungsvorschläge: “Versuche einmal …”, “Was geschieht, wenn …” (AV/ DM/ ev. kombiniert mit MM/ im Gruppenunterricht M).
  5. Erfinden und selbst gestalten: Die Lehrperson fordert die Kreativität der SchülerIn heraus und zieht sich zurück. Die SchülerIn findet selbst heraus und betätigt sich kreativ. Formulierungsvorschläge: “Du bekommst die Projektaufgabe …”; “Du darfst zum Thema … selbst etwas erfinden” (EV/ im Gruppenunterricht M).

Um noch konkreter zu werden, mache ich zu jedem Aufbauschritt ein Beispiel aus meinem Unterrichtsalltag:

  1. Beobachten und vergleichen: Eine 9-jährige wortkarge und scheue SchülerIn, möchte ich zum Sprechen “verführen”, indem ich als Anknüpfungspunkt eines ihrer Stücke unterschiedlich interpretiere. Dazu stelle ich ihr verschiedene kleine Plastiktiere (Abb. 1) hin, die sie meinen Spielweisen zuordnen und ihre Wahl begründen soll. Da sie sich mit Tieren auskennt, wirkt sie interessiert und öffnet sich mir gegenüber. Ich lasse ihr Zeit, höre ihr aufmerksam zu und lasse mich von ihren Ideen überraschen. Wenn mir etwas nicht klar ist, frage ich nach oder bringe anregende Ideen ein, welche die SchülerIn weiterentwickeln kann. Das Ziel ist, mit der SchülerIn in einen echten Dialog zu kommen, in dem sie spürt, dass ihre Ideen ernst genommen werden. Mich freut, dass ich sie mit dem Thema “Tiere” herauslocken konnte und sowohl ihre Fantasie als auch ihre differenzierte Musikwahrnehmung zum Tragen gekommen ist. Im Sinne der Stufe 4 könnte als Steigerung ein Rollentausch gemacht werden, in dem die SchülerIn Interpretationsideen ausprobiert und die Lehrperson die Tiere dazu auswählt.
Abb. 1: Plastiktiere als Anregung zu Interpretationsvarianten
  1. Sich selbst einschätzen und überprüfen: Eine 15-jährige SchülerIn, die schnell mit sich zufrieden ist, bekommt von mir die Aufgabe, ihre Ausführung dynamischer Angaben in ihrem Stück zu überprüfen. Dazu schlage ich ihr eine Rating-Skala von 1-10 vor (Abb. 2). Anhand dieser Skala soll sie sich selbst einschätzen, Korrekturen machen und dem Ziel “10” möglichst nahekommen. Zu meiner Überraschung, gibt sie sich sehr strenge “Noten” und ich muss meine zuerst gefasste Meinung revidieren. Ich denke, dass diese Form der Arbeit ein genaues Hinhören verlangt und automatisch zu einer verschärften Selbstwahrnehmung führt, was Voraussetzung für selbstständiges Arbeiten darstellt. Das Einschätzen des eigenen Querflötenspiels ist anspruchsvoller als das Vergleichen von äusseren akustischen Ereignissen. Als Kontrolle könnte deshalb auch eine Audio- oder Videoaufnahme hinzugezogen werden.
Abb. 2: Rating-Skala zur Förderung der Selbstwahrnehmung
  1. Eine eigene Meinung bilden und haben: Mit einer 13-jährigen SchülerIn mache ich ein Atemtraining mit Flöte, in dem sie zwei Übungen miteinander vergleichen soll. Bei der ersten Übung an der Wand soll sie beim Einatmen in die Knie gehen bzw. beim Spielen wieder hochkommen. Bei der zweiten Übung auf dem Sitzball muss sie beim Einatmen nach hinten bzw. beim Spielen nach vorne rollen. Ich möchte von ihr wissen, bei welcher Übung sie einen besseren Klang produzieren kann und weshalb das so sein könnte. Sie probiert die beiden Übungen im Wechsel aus und entscheidet sich danach für jene an der Wand. Ihre Begründung ist, dass diese einfacher auszuführen sei und sie im Stehen mehr Kraft beim Blasen habe, was den Klang verbessere. Durch das eigene Erleben der Wirksamkeit der Übung vergrössert sich die Chance, dass die SchülerIn diese Übung auch zu Hause anwenden und somit Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen wird.
  2. Ausprobieren und entdecken: Eine zurückhaltende 7-jährige SchülerIn spielt mit mir zusammen zweistimmig das Weihnachtslied “Morgen kommt der Weihnachtsmann”. Nun erzähle ich ihr die Geschichte des Weihnachtsmanns, der im tiefen Wald wohnt und mit seinen schweren Stiefeln durch den Schnee stapfen muss, um den Kindern feine Sachen zu bringen. Wir spielen das Stück langsam, laut, mit breiten Tönen und schwerer Luft. Dann frage ich sie, wie es klingt, wenn der Weihnachtsmann mit seinem leeren Sack zurückkommt. Als Hilfestellung frage ich sie nach der Ausführung der einzelnen Parameter (siehe Abb. 3): Geschwindigkeit (=Tempo), Lautstärke (=Dynamik), Breite der Töne (=Artikulation) und Luftkraft (=Atemenergie). Sie antwortet, dass wir schneller, leiser, mit kürzeren Tönen und leichterer Luft als vorher spielen sollen, da er mit dem leeren Sack schneller gehen kann. Sie erfindet die Geschichte weiter, indem sie mir erzählt, dass er traurig sei, weil er wieder ein Jahr warten muss. Sie meint, dass es langsam, leise, mit sanften Tönen und mit weicher Luft tönen muss. Wir setzen die Idee gemeinsam um. Ganz unerwartet ergänzt sie noch: Der Weihnachtsmann ist nicht mehr traurig, sondern freut sich auf das nächste Jahr, wenn er wieder zu den Kindern gehen kann. Sie meint, dass wir schnell, mit kurzen, lustigen Tönen und hüpfender Luft spielen sollen. Mich freut besonders, dass sie sich rasch auf die Geschichte eingelassen, eigene Ideen erfunden und diese ausprobiert hat. Wichtig ist mir, dass sie gemerkt hat, dass sie sich auch als Anfängerin mit wenigen Tönen verschiedenartig auf der Querflöte ausdrücken kann und dass sie angstfrei im Unterricht experimentieren darf. Uns beiden hat es riesigen Spass gemacht und ich stelle fest, dass ihr Selbstbewusstsein gewachsen ist und sie offener als vorher wirkt. Die untenstehenden Parameter stellen sicherlich für den Anfängerunterricht einen guten Start dar, können aber nach Belieben und Bedarf durch zusätzliche musikalische Aspekte, wie z.B. Klangfarbe oder Agogik etc., ergänzt werden:
Abb. 3: Erste Experimente mit Parametern im Anfängerunterricht
  1. Erfinden und selbst gestalten: Zwei eng befreundete 10- und 11-jährige Schülerinnen kommen wöchentlich in einer Stundenüberlappung von 30 Minuten gemeinsam zu mir in den Unterricht. Die beiden sind äusserst lebendig, übersprudeln von Ideen und verwandeln die gemeinsame Unterrichtszeit in ein kleines Chaos. Meine disziplinarischen Versuche, sie etwas zu kanalisieren, sind gescheitert und haben sogar das Gegenteil bewirkt. Deshalb beschloss ich, anstelle von Interventionen meinerseits, ihnen einen anspruchsvollen Auftrag zu geben. Das Projekt heisst “musikalische Ansichtskarten einer Weltreise”. Ich versuche ihre überschäumende Energie mit konkreten Projektpunkten zu ordnen:
    • Sie entscheiden sich für ein Land.
    • Sie wählen aus den von mir vorgeschlagenen Stücken aus.
    • Sie schreiben, falls nötig, die Stücke in eine geeignete Lage um.
    • Sie umrahmen die Stücke jeder Reisestation mit einer kleinen Geschichte, die sie dann gemeinsam aufsagen.
    • Da jede Reisedestination auf Video festgehalten und den Familien zugeschickt wird, suchen sie Requisiten zu den einzelnen Ländern.

Solche musikalischen Ansichtskarten bereiten besonders in der Coronazeit, in der das Reisen schwierig geworden ist, Freude und erhalten die Motivation. Zudem machen beide durch das Spielen im Duo und Trio grosse rhythmische Fortschritte, die im Einzelunterricht deutlich spürbar sind. Ihre vielen Ideen und ihre grosse Energie können sie nun in ihr Projekt stecken. Anstelle von Sanktionen meinerseits wirken nun die natürlichen Konsequenzen: Bei konzentrierter Arbeit werden die einzelnen Videos für das Versenden zeitig fertig, aber falls die Vorbereitung ungenügend ist oder sie sich beim Proben gegenseitig ablenken, sind die Videos qualitativ nicht zufriedenstellend oder die Fertigstellung verzögert sich. Gerade in einer Duade befreundeter LernpartnerInnen (Abb. 4) kann effizient miteinander gearbeitet und voneinander gelernt werden (vgl. Renate Lemmer und Paolo Waldegg). Zudem weist diese Lernkonstellation meistens einen hohen Aktivitätsgrad auf. Die beiden Schülerinnen sind zwar immer noch ungestüm, aber diese regelmässige, gemeinsame Zeit ist von einer grossen Kreativität geprägt, die nicht nur für die Schülerinnen, deren Familien, sondern auch für mich äusserst bereichernd ist.

Abb. 4: Die beiden Freundinnen – eine erfolgreiche und energievolle Lernpartnerschaft

Die Vorbereitung von schüleraktivierenden Unterrichtssequenzen

Im Grundsatz unterscheidet sich die Planung von schülerzentriertem und -aktivierendem Unterricht nicht wesentlich vom stark gelenkten, lehrerzentrierten Unterricht. Trotzdem sollen folgende Fragen und spezifische Aspekte zum Reflektieren anregen:

  • Welche Momente im Unterricht eignen sich für ein Aktivierungsarrangement für die SchülerIn? Wo kann ich mich als Lehrperson zurückziehen, wo braucht es Führung? Ernst meint dazu: “So viel Lenkung wie nötig, so wenig Lenkung wie möglich”. (Ernst, S. 75)  
  • Welche der fünf progressiven Aufbaustufen eignet sich als Einstieg für eine bestimmte SchülerIn, damit diese auf ihrem Selbstständigkeitslevel von der Lehrperson abgeholt werden kann? Es ist ratsam, dass die Lehrperson mit einer einfachen Aufgabe beginnt und zusehends den Anspruch an die SchülerIn steigert. Im Idealfall führt dies zu einem stimmigen Lektionsverlauf.
  • Wie viel Zeit braucht eine schüleraktivierende Unterrichtssequenzen? Es ist zu empfehlen, nicht zu viele Sequenzen in einer Unterrichtslektion einzubauen, da sie meistens mehr Zeit als geplant benötigen. Als Grundregel könnte gelten, dass für jede Lektion ein Freiraum vorbereitet wird.
  • Welche strukturierenden Massnahmen sollen in einem Unterricht mit mehreren SchülerInnen eingesetzt werden? Gibt es disziplinarische Probleme, die über inhaltliche Aspekte aufgelöst werden können? Zum einen kann durch “Modeling” das Beobachten und Reflektieren in der Gruppe angeregt werden, zum anderen wird durch die Übertragung von Verantwortlichkeiten der Fokus auf die gestellte Aufgabe gelenkt.
  • Welche Momente der aktivierenden Unterrichtssequenz können vorbereitet werden?
    • Für den Einstieg ist empfehlenswert, Startfragen oder Aufträge wortwörtlich zu formulieren.
    • Eignet sich der Unterrichtsinhalt für die Selbsttätigkeit der SchülerIn?
    • Braucht es unterstützende Materialien?
    • Gibt es eine kurze Geschichte für jüngere SchülerInnen, mit der die einzelnen Schritte umrahmt werden können?
    • Wie könnte eine Aufgabe für zu Hause aussehen?
  • Wie trainiere ich als Lehrperson die eigene Flexibilität und Spontaneität?
    • Als Vorbereitung auf eine Lektion, die Lernräume und herausfordernde Aktivierungssequenzen beinhaltet, ist es nützlich und hilfreich, einen detaillierten Plan anzufertigen. In der direkten Interaktion mit der SchülerIn hingegen ist die Lehrperson künstlerisch und didaktisch stark gefordert, da sie zwischen der eigenen Planung und den Gestaltungsfreiräumen für die SchülerIn oszillieren muss (vgl. Kinsky, S.7, 9-10).
    • Auch das Unterrichtsimprovisieren muss trainiert werden: Ein ausgiebiges Training mit einer “Präparation für alle Fälle”, in dem die Lehrperson sich in verschiedene Szenarien hineinversetzt, sich in die SchülerIn hineinfühlt und alternative Vorgehensweisen kreiert, vermittelt Sicherheit und Souveränität. Mit der Zeit ergibt sich aus der regelmässigen minutiösen Planung und einem immer reicheren Erfahrungsschatz eine Unterrichtsvirtuosität, die mit weniger Planung auskommt.
    • In jeder Lektion, aber besonders im Unterricht, der die Eigenaktivität der SchülerIn anregen soll, ist die Präsenz der Lehrperson zentral. Folgende “magische Formeln” könnten dabei helfen:
      • Die Atmung ruhig fliessen lassen.
      • Sich eingemittet fühlen.
      • Im Hier und Jetzt sein.
      • Die SchülerIn ganzheitlich zu erfassen versuchen und auf sie eingehen.
      • Aus dem Moment heraus das Geplante fallen lassen und auf seine eigene Intuition vertrauen.
      • Bei Gefühlen von Kontrollverlust, sich innerlich entspannen und für Überraschungen offenbleiben.

Einen solchen Kontrollverlust möchte ich nun schildern:

Eine eigene Erfahrung mit überraschender Einsicht

Als Lehrerin mit recht grosser Erfahrung im Freiraumgeben wurden mir vor einiger Zeit die Lektionen von einer 17- und 18-jährigen Schülerin förmlich entrissen. Sie wollten weder meine Einspielübungen noch Werkvorschläge akzeptieren. Über längere Zeit fühlte ich mich hilflos, fehl am Platz und ratlos. Ich hatte das Gefühl, meine Aufgabe als Lehrerin nicht mehr richtig erfüllen zu können, was auch Schuldgefühle bei mir heraufbeschwor. Durch den extremen Kontrollverlust und die daraus entstehende grundlegende Verunsicherung, blieb mir nur eine Option: Ich öffnete mich dieser neuen Situation gegenüber und liess mich überraschen, wohin die Reise geht. Tatsächlich übernahmen die beiden die Führung: Sie kamen mit ihren Popstücken in die Stunde, beauftragten mich mit Notenschreibarbeiten ihrer Songs (umgekehrte Vorzeichen: zur Abwechslung mal einen Auftrag für die Lehrperson ?), improvisierten mit Flöte, Gesang und Klavier und machten Aufnahmen als Geschenke für ihre Familien und Freunde. Was mich besonders rührte, war das mir entgegengebrachte Vertrauen der einen Schülerin, als sie ihre eigenen Songs mitbrachte und meine Hilfe suchte. Am Anfang war der Unterricht, der aus zwei zusammengelegten Einzellektionen bestand, chaotisch und ziellos. Im Laufe der Zeit entwickelten die SchülerInnen eine eigene Disziplin und einen Qualitätsanspruch, der mich überraschte. Unterdessen ist die Doppelstunde strukturiert und enthält sowohl Ideen von mir als auch Musikvorschläge, Songs und Improvisationen meiner Schülerinnen. Unsere gemeinsame Arbeit fühlt sich wie eine Probe einer “Popband” an, die Covers und Eigenkompositionen macht. Das Spezielle daran ist, dass ich als Lehrperson immer wieder als Teil dieser Band zum Einsatz komme. Meine Funktion als Lehrperson ist vor allem jene einer erfahrenen Zuhörerin und musikalischen Beraterin, die den zeitlichen Rahmen vorgibt. Auch wenn für mich diese Umbruchsphase eine pädagogische Durststrecke bedeutete und Mut abverlangte, um dieser neuen Entwicklung Raum zu geben, bin ich zum heutigen Zeitpunkt als Pädagogin und als Künstlerin mit der Qualität dieser gemeinsamen Arbeite äusserst zufrieden. Diese Lektionen wandelten sich zu einem wunderbar kreativen Unterricht und stellen für mich etwas vom Schönsten dar, das ich bis jetzt in meiner Lehrertätigkeit erlebt habe.

“Some of us” von Noemi Waltisperg (Text, Musik, Gesang, Klavier), T.L. (Querflöte)
Die überarbeitete Version von “Some of us” von Noemi Waltisperg (Text, Musik, Gesang, Klavier) in Zusammenarbeit mit dem Basler Musiker Brandlöschr (Produktion, Tontechnik, Gesang)

Ein Plädoyer für das Arrangieren von schüleraktivierenden Freiräumen im Instrumentalunterricht

Weshalb ist es wichtig, dass man sich als Lehrperson immer wieder im Unterricht zurücknimmt und den SchülerInnen Freiraum für das eigenständige Ausprobieren, Experimentieren und Kreieren gibt? Die folgenden Gedanken sollen dies erläutern:

  • Das Fördern der Selbstständigkeit der SchülerInnen ist ein pädagogischer Grundsatz, denn als Lehrperson soll man sich entbehrlich machen. Brigitte Bryner-Kronjäger und Peter Schwarzenbach meinen dazu: “Alles was der Schüler selber denken, entscheiden, sagen oder tun kann, soll er auch selber denken, entscheiden oder tun.” (Bryner-Kronjäger, Schwarzenbach, S. 48)
  • Die SchülerInnen müssen Selbstverantwortung für ihr Lernen übernehmen, was durch ein geeignetes Lernsetting, arrangiert durch die Lehrperson, ermöglicht wird. Manchmal ist der indirekte Weg zum Ziel für die SchülerInnen nachhaltiger als der direkte Weg, der von der Lehrperson gelenkt wird. “Umwege” werden so zu sinnvollen und erwünschten Lernerfahrungen.
  • Durch das Zulassen von Freiräumen kann die Lehrperson die Lernbereitschaft der SchülerInnen nützen und so das formelle Lernen (das organisierte Lernen in Bildungsinstitutionen) phasenweise dem informellen und dem wilden Lernen (nicht organisiertes Lernen ausserhalb von Bildungsinstitutionen) annähern. Dabei spielt das Ausprobieren, das Lernen durch “Versuch und Irrtum”, das “Learning by doing” und das “Modell-Lernen” eine Hauptrolle. Mit einer “Ermöglichungsdidaktik” kann die Lehrperson in diesem Sinne den SchülerInnen einen Rahmen für selbstbestimmtes Lernen geben (Röbke, Ardila-Mantilla 2009).
  • Sich als SchülerIn aktiv für eine Sache zu engagieren, steigert das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, denn dadurch wird die Selbstwirksamkeit erlebt. Gerade für Jugendliche ist es wichtig zu spüren, dass sie auf Abläufe Einfluss nehmen und für ihr Verhalten Eigenverantwortung übernehmen können.
  • Vor allem bei befreundeten SchülerInnen, z.B. in Duaden oder Kleingruppen, ist der Aktivitätslevel meistens erhöht. Auch in grösseren Gruppen kann mit geplanten Freiräumen die Selbsttätigkeit, z.B. mit Modeling, angeregt werden. Wichtig ist dabei, dass die SchülerInnen in der Peergruppe einen festen Platz finden und sich wohl fühlen. Falls dies nicht der Fall wäre, so könnte die Lehrperson versuchen, einzelne SchülerInnen in den Gruppenverband einzubinden: Für SchülerInnen ist es meist besonders reizvoll, für jüngere SchülerInnen oder AnfängerInnen die Verantwortung zu übernehmen. Bei heterogenen Gruppen könnte z.B. jede ältere bzw. fortgeschrittene SchülerIn ein “Patenkind” betreuen.
  • Im Sinne “einer Stunde der Wahrheit” hat man als Lehrperson die Chance, durch das eigene Zurücknehmen die Selbstständigkeitsgrade der einzelnen SchülerInnen zu beobachten und einzuschätzen. Dies kann gleichzeitig als Indikator für das Üben der SchülerInnen zu Hause gelten.
  • Der Instrumentallehrerberuf beinhaltet verschiedene Funktionen: KünstlerIn, InstruktorIn, Fachperson, WegbegleiterIn, ModeratorIn, LernberaterIn, ArrangeurIn von Lernprozessen, EnsembleleiterIn, TrainerIn, BeobachterIn, PerformerIn, Vorbild, Coach, LernpartnerIn, Vertrauensperson, Jury etc. Mit diesen Rollen kann die Lehrperson spielerisch umgehen, indem sie immer wieder einmal bewusst Verantwortung den SchülerInnen abgibt und dabei selbst entlastende Augenblicke erlebt.
  • Momente, in denen echte Dialoge stattfinden, stärken die Vertrauensbasis zwischen Lehrperson und SchülerIn, denn durch das Nivellieren des hierarchischen Lehrer-Schüler-Gefälles wird der Weg sowohl zum gemeinsamen Musiklernen und Musikmachen als auch zum achtungsvollen Umgang miteinander eröffnet. Durch die Auseinandersetzung mit der Schülerpersönlichkeit und durch das ehrliche Interesse an deren Lebenswelt hat die Lehrperson nicht nur die Chance, mit der SchülerIn zusammen Musik zu geniessen, sondern sie kann rascher auf Krisenmomente reagieren und die Schüler-Lehrer-Beziehung neu aushandeln.
  • Das Unterrichtszimmer wird zum Labor, in dem der Forschergeist der SchülerInnen geweckt oder gefördert wird und die Lehrperson sich immer wieder überraschen lassen kann: Als Lehrperson lernt man in solchen Momenten seine SchülerInnen von einer anderen Seite kennen und entdeckt Fähigkeiten, die im lehrerzentrierten Unterricht weniger sichtbar sind.

Sternstunden im Instrumentalunterricht sind für mich, wenn meine Begeisterung für die Musik auf die SchülerInnen überspringt und bei ihnen ein tiefes Musikerleben auslöst. Ich denke, dass gerade das bewusste Einbinden der SchülerInnen in den Unterricht und die Förderung der aktiven Beteilung der SchülerInnen zentrale Faktoren darstellen, um solche beglückenden Erfahrungen als Lehrperson zu initiieren.

Literaturverzeichnis

Bryner-Kronjäger, Brigitte und Schwarzenbach, Peter: Üben ist doof. Gedanken und Anregungen für den Instrumentalunterricht, Frauenfeld: Waldgut 1980, 3. vollständige Auflage 1990

Ernst, Anselm: Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht, Mainz u.a.: Schott 1991, ergänzte Auflage 1999

Fend, Helmut: Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne, Band II, Bern u.a.: Hans Huber 1991

Kinsky, Veronika: “Dramaturgie – die Kunst im Dazwischen. Musikunterricht im Spannungsfeld von ausgeklügelter Planung und ästhetischem Erlebnis”, in: Üben & Musizieren 6/21, Schott, S. 6-10

Lemmer, Renate und Waldegg, Paolo: Lernen zu zweit in freundschaftlichen Beziehungen, Seminararbeit pädagogische Psychologie, Universität Zürich 1995

Mahlert, Ulrich: “Mimesis und Imitatio. Nachahmungslernen im Instrumentalunterricht”, in: Üben & Musizieren 5/1999, S. 14; in: Busch, Barbara und Metzger, Barbara: “Sensibel ausbalanciert. Von der Kunst, Musizierunterricht dramaturgisch zu gestalten”, in: Üben & Musizieren 6/21, S. 12-16

Reusser Kurt und Reusser-Weyeneth, Marianne: Verstehen. Psychologischer Prozess und didaktische Aufgaben, Bern u.a.: Hans Huber, 1. Aufl. 1994

Röbke, Peter und Ardila-Mantilla, Natalia (Hg.): Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – auch ausserhalb von Schule und Unterricht, Mainz: Schott 2009

Schibig Cornelia und Leimbacher, Rahel: “Mit ‘Modeling’ zu mehr Selbständigkeit”, in: Bildung Schweiz, 3/07



Renate Lemmer Schönenberger

Trio BelArtis | Basel Music School | Contact

Ist in Zürich geboren und aufgewachsen. Ihre musikalischen Studien schloss sie mit der Konzertreifeprüfung bei Günter Rumpel an der Musikhochschule Zürich ab. Studien bei André Jaunet, Aurèle Nicolet, Conrad Klemm und Robert Dick. Bereits während ihres Musikstudiums wurde das Unterrichten neben ihrer Tätigkeit als Querflötistin und Komponistin zu einem wichtigen beruflichen Standbein. Sie gewann dann auch 1988 den Pädagogikpreis von Berti und Werner Alter.

Nach der Lehrtätigkeit am Konservatorium Bern unterrichtet sie seit 1991 an der Musik-Akademie Basel. Nach ihrem Universitätsstudium der Musikwissenschaft, Germanistik und pädagogischen Psychologie, das sie 2000 mit dem Lizenziat abschloss, übernahm sie zusätzlich die Dozentur für Querflötendidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule der Musik Basel.

Als Komponistin ist sie vor allem für das Gangster-Trio für drei Klarinetten bekannt, das als besonders empfehlenswerte Literatur ausgezeichnet wurde. 2015 erschien ihr musikwissenschaftlicher Artikel “‘Auch ohne Worte kann sie Würkung thun’. Instrumentalmusik als Kommunikationsmittel in musikalischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts” (in: Communicating Music. Festschrift für Ernst Lichtenhahn zum 80. Geburtstag, Peter Lang 2015). Neben ihrer Tätigkeit als Musikpädagogin und Dozentin widmet sie sich ihrer Familie. Mit ihrem Ehemann Andreas Schönenberger konzertiert sie als Flötistin und ist zudem Mitglied des Trio BelArtis mit Helen Braun (Gesang) und Andreas Schönenberger (Orgel, Klavier).